Der Regentanz

Tropfen auf Fensterglas

Sind Sie sich sicher, Herr Klein?“
Frank war sich absolut nicht sicher, aber er wollte es. Er musste – da war er sich ganz sicher!
„Ja. Sollte es zu schwierig werden, stehe ich umgehend auf der Matte. Versprochen.“
Prüfend sah die Psychotherapeutin ihn noch einen Augenblick an und kritzelte irgendwas in seine Akte.
An der großen Fensterscheibe bahnten sich die Regentropfen ihren Weg hinab. Er konnte sich nicht erinnern, wann es zuletzt trocken gewesen war. Monotones Grau begleitete ihn, wie der andauernde Niederschlag. Kaum Aussicht auf Besserung.
Sie reichte ihm die Hand:
„Nun, dann sehen wir uns am Sonntagabend wieder. Ich wünsche Ihnen viel Erfolg.“
Es würde schwer werden, das stand fest. Aber Frank hatte einen Plan und ein Ziel. So verließ er mit seiner Reisetasche die Klinik Richtung Bushaltestelle.

Frank stand vor seiner Wohnungstür. Er schluckte und schloss auf. Der Gestank der letzten Jahre schlug ihm entgegen. Widerwillig trat er ein und kämpfte sich durch den Dreck und Müll, der den Boden bedeckte. Durch die beißenden Gerüche von Urin und Schweiß, verschimmelten Lebensmitteln und kaltem Nikotin.
Ihm wurde schlecht. Noch mit der Tasche in der Hand öffnete er das Küchenfenster und lehnte sich weit hinaus.
Im Kühlschrank stand noch ein Rest Wodka und die Notfalldepots in der Wohnung drängten sich in seine Erinnerung.
„Einfach die Flasche an den Hals setzen … Nein!“, unterbrach Frank den sich formenden Satz der Gewohnheit. Er ließ die Tasche fallen, um sich noch weiter hinaus zu lehnen und sog die nasskalte Novemberluft tief ein.

Die Kälte rief ihm die Bilder des ersten Ballettbesuches mit seiner Mutter ins Gedächtnis. Ein Stück extra für Kinder. ‚Das kleine Mädchen mit den Schwefelhölzern‘, nach dem Märchen von Hans-Christian-Andersen. Das war vor ihrer Krankheit. Bevor sie starb. Bevor sein Vater trank. Bevor er die Arbeit verlor und ihn …
„ S-T-O-P.“, befahl er sich. Endlich ließ die Übelkeit ein wenig nach.
Frank verharrte noch einen Augenblick, hielt die Luft an und spurtete in den kleinen Wohn-Schlafraum. Beinahe fiel er über das Ende der ausgezogenen Couch. Fing sich am Tisch ab und es schepperte heftig, als ein Dutzend leerer Flaschen zu Boden fiel und sich mit den bereits dort liegenden Scherben vereinigte. Frank stürzte zur Balkontür, riss sie auf und übergab sich.

*

Du verdammte kleine Schwuchtel!“, lallte sein Vater. Während Frank noch die braunen Scherben in der schaumigen Pfütze auf dem Wohnzimmerteppich anstarrte, brannte ein bekannter Schmerz auf seiner linken Wange. Instinktiv zog er den Kopf zwischen die Schultern, tauchte unter den Armen des Vaters weg und rannte in sein Kinderzimmer.
„Bleib stehen!“, brüllte es hinter ihm.
„Strumpfhosen kannst du tragen, aber zu blöd für ’ne Pulle Bier!“
Frank knallte die Zimmertür zu und schloss ab. Die Fäuste seines Alten hämmerten dagegen. Er kroch unter sein Bett und hielt sich die Ohren zu. Aber das Gebrüll konnte Frank nicht zum Schweigen bringen.

*

Das Würgen ließ nach.
„Scheiße! Was habe ich mir nur gedacht! Ich packe das nicht …“, scharf stieß er die Luft durch seine Zähne.
Selbstabwertung. Das war einer der Stolpersteine.
Es war gut, die Unterstützung, die er hätte annehmen können, abgelehnt zu haben. Wenigstens blieb so seine Scham privat.
Tief atmete Frank ein und aus und ein und aus:
„Eins nach dem Anderen. Schritt für Schritt.“

Ihm war leicht schwindelig. Doch der Schwindel legte sich wieder, im Gegensatz zum Ekel. Er zwang sich zurück in die Küche. Aus der Reisetasche zog Frank eine Flasche Wasser, die er mit nur einem Zug bis zur Hälfte leerte. Er packte die Rolle mit den Müllsäcken aus und überlegte, wo er den Wischeimer zuletzt gesehen hatte. Unter der Spüle, wo er hin gehörte, war er ebenso wenig wie im Bad zu finden. Kurzerhand nahm er seinen größten Kochtopf, befüllte ihn mit Wasser, kehrte zurück auf den Balkon und spülte sein Erbrochenes durch den Abfluss.
Als Frank auf die Uhr sah, war es bereits kurz vor Zwölf. Ohne lange zu überlegen, ließ er die Fenster weit geöffnet und nahm den Spießrutenlauf zum Supermarkt in Kauf.

Die Kassiererin musterte ihn, sagte aber nichts. Bepackt mit Wischeimer und diversen Tüten kehrte er zurück.
Missbilligend beäugte ihn die ältere Dame aus der ersten Etage durchs Fenster. Frank nickte ihr kurz zu und ging bewusst aufrecht.
Er stellte seine Einkäufe neben die Tasche und zog einen Zettel heraus:
„Erster Punkt: Alkohol entsorgen!“
Seine Hände zitterten, als er den restlichen Wodka in die Spüle goss.
Nach und nach trug er seine Vorräte zusammen, leerte sie, spülte jede Flasche sorgsam mit Wasser aus und sammelte sie in Tüten auf den Balkon. Mit jeder Flasche mehr ging es ein bisschen leichter. Dann begann er, das noch nicht zerbrochene Leergut aus den anderen Räumen zusammenzupacken. Bei den letzten kam Frank nicht mehr gegen seine Emotionen an und weinte.

Erst jetzt gönnte er sich endlich eine Pause. Kramte die Schachtel mit den Zigaretten, die zuunterst in seiner Tasche lag, hervor. Mit einem Unterteller bewaffnet ging er auf den Balkon, auf dem sich sein Erfolg stapelte.

Die Dämmerung hatte bereits eingesetzt. Frank sah auf die Uhr, 16:15 Uhr.
Gegen 19.30 Uhr würde der letzte Bus Richtung Klinik fahren.
„Herr Klein, und denken Sie daran, Sie können jederzeit zurück kommen.“, hörte er die Stimme seiner Therapeutin.
„Überfordern Sie sich nicht! Das wirft Sie zurück.“
Es war keine Siegeszigarette, wie er gehofft hatte, nur eine Pause. Er zog wieder den Zettel hervor:
„Zweiter Punkt: Dreckwäsche entsorgen!“
In seinem Hals wuchs ein Kloß und sein Magen krampfte.
Als Belohnung wollte er noch zum Friseur.
Aber es war schon so spät und wenigstens den zweiten Punkt wollte Frank noch abgearbeitet wissen.

Seine Zigarette war längst aufgeraucht. Es war dunkel geworden. Erst jetzt nahm er die Kälte wieder wahr.
„16:50 Uhr“ zeigte das beleuchtete Display seiner Armbanduhr an.
Frank holte einen blauen Müllsack und begann im Badezimmer, seine verunreinigte Kleidung einzusammeln. Am Ende waren es zwei volle Müllsäcke, die ordentlich mit Paketband zugebunden, ebenfalls einen Platz auf dem Balkon fanden.
Ohne weitere Pause kehrte er die Scherben zusammen und leerte die Aschenbecher aus.

*

In seinen Gedanken kuschelte er im Arm seiner Mutter. Sie schauten sich die Primaballerina, Maja Plissezkaja, in der Rolle des sterbenden Schwans im Fernseher an.
Sein Vater war auf Geschäftsreise und so wurde der allsamstägliche Abend statt mit Fußball mit Ballett, Theater oder ‚Verstehen sie Spaß‘ gefüllt.

*

Wie war das noch gleich?“
Ein Schritt rechts, zwei links, Drehung und leichtfüßig angelte er sich den Chlorreiniger aus einer der Tüten.
Er goss den Reiniger über die Verkrustungen in der Toilette und sah gebannt zu, wie dieser Blasen warf, während er sich zum Porzellan durchfraß. Braun-gelbe Rinnsale liefen hinab und lösten sich im Wasser auf.
Er sprühte noch Waschbecken und Dusche ein, ehe er sich die Tüten mit den Scherben und Kippen nahm und sie zu den Mülltonnen an der Straße brachte.

Es regnete immer noch. Doch ihm war angenehm warm und die Tropfen waren erfrischend. Auf dem Rückweg tanzte er und summte: „I’m singing in the rain.“
Die Alte am Fenster beobachtete ihn wieder und Frank konnte nicht anders, er legte seine Hand auf die Parkuhr, tanzte darum herum, eine elegante Drehung und kam so, das Gesicht der alten Frau zugewandt, zum Stehen. Er verbeugte sich höflich tief. Als er wieder aufblickte, sah Frank, wie ihr strenger argwöhnischer Blick einem Lächeln wich und sie applaudierte.